Meine Erwiderung auf das Antwortschreiben von Staatsminister Holetschek zur Europarechtskonformität von Modellprojekten zu Cannabis in Bayern

Europarechtskonformität regionaler Modellvorhaben zur Erprobung der Legalisierung von Cannabis zum Freizeitkonsum

Sehr geehrter Herr Staatsminister Holetschek,

vor knapp zwei Wochen haben Sie – erst öffentlich auf Twitter und dann auch per Post an uns – auf unseren Offenen Brief zur Europarechtskonformität der geplanten Cannabis-Modellvorhaben geantwortet. Ihr Schreiben enthält zahlreiche Argumente und Behauptungen, denen zufolge wir rechtlich klar falsch lägen und die Modellvorhaben klar rechtswidrig seien. Gerne möchten wir unsere rechtliche Einschätzung noch einmal bekräftigen und zu Ihren Argumenten Stellung nehmen.

Bereits Ihr erstes Argument, wir würden die klaren Rahmenbedingungen des Europa- und Völkerrechts zu den Ausnahmen vom Drogenverbotsregime für wissenschaftliche und medizinische Zwecke verkennen, verfängt nicht. Sie erkennen selbst, dass das Drogenverbotsregime von UN und EU ausdrücklich Ausnahmen für medizinische und wissenschaftliche Zwecke vorsieht. Wie weit diese Ausnahmen im Einzelnen reichen, ist bis heute Gegenstand intensiver (rechts-)wissenschaftlicher Diskussionen. Die von der Bundesregierung vorgesehenen regionalen und befristeten Modellvorhaben dienen nach unserem Verständnis einem wissenschaftlichen Zweck. Wir verkennen also keinesfalls die Rahmenbedingungen des Völker- und Europarechts, sondern legen die einschlägigen Vorschriften im Sinne eines besseren Gesundheitsschutzes und damit im Einklang mit den Zielen der europäischen und internationalen Drogenpolitik aus.

Sie führen in Ihrem Antwortbrief außerdem an, dass Ausnahmevorschriften nicht „umfassend“, sondern „stets restriktiv“ auszulegen seien. Dabei handele es sich um einen wesentlichen Rechtsgrundsatz, der bekanntlich auch in anderen Rechtsgebieten Anwendung finde und der allgemeinen Auslegungspraxis des EuGH entspräche. Auch dieser auf den ersten Blick schlüssige Einwand ist leicht zu entkräften. Die in diesem Zusammenhang von Ihnen zitierte EuGH-Entscheidung (EuGH, Urteil vom 26.9.2013, Rs. C-546/11, Rn. 41) bezieht sich auf Ausnahmen vom Verbot der Diskriminierung aus Gründen des Alters. Dass diese – ebenso wie die Rechtfertigungsgründe für Eingriffe in die EU-Grundfreiheiten – eng auszulegen sind, entspricht in der Tat der ständigen Auslegungspraxis des EuGH. Das Verbot der Diskriminierung im Alter ist aber nicht mit dem Verbot der Einfuhr von Drogen vergleichbar. Dass jegliche Ausnahmevorschriften pauschal und unabhängig davon, für welches Verbot sie im Einzelnen bestehen, immer – das heißt ausnahmslos – restriktiv auszulegen sind, ist kein feststehender Rechtsgrundsatz. Der EuGH entscheidet über die Auslegung von Ausnahmebestimmungen vielmehr differenziert unter Berücksichtigung des jeweiligen Einzelfalls und weicht von der allgemeinen Formel, Ausnahmevorschriften eng auszulegen, regelmäßig ab. Im Übrigen bedeutet eine enge Auslegung der Ausnahmevorschriften nicht, dass die geplanten wissenschaftlich begleiteten Modellvorhaben nicht unter die Ausnahme „wissenschaftliche Zwecke“ fallen. Weder die VN- und EU-Vorschriften noch die offizielle Kommentierung zur „Single-Convention“ enthalten Definitionen der „wissenschaftlichen Zwecke“. Wie der Begriff auszulegen ist, ist in der Rechtswissenschaft sehr umstritten; in der Rechtsprechung ist die Frage noch unbeantwortet. Damit ist die Rechtslage nicht so eindeutig wie von Ihnen dargestellt.

Weiter missverstehen Sie das von uns im Zusammenhang mit der Josemans-Entscheidung des EuGH geführte Argument. Wir sagen nicht – wie Sie unterstellen – dass der EuGH den Verkauf von Cannabis in niederländischen Coffeeshops ausnahmsweise gebilligt hat. Vielmehr weisen wir darauf hin, dass der EuGH in seiner Entscheidung medizinische und wissenschaftliche Zwecke als mögliche Ausnahmen vom generellen Verbot anerkannt hat. Nicht anders ist die von Ihnen zitierte Passage (EuGH, Rs. C-137/09, Urteil vom 16.12.2010 – Josemans, Rn. 31, 34 ff.) zu verstehen.

„Eindeutig fehl“ geht Ihnen zufolge die Argumentation, dass Art. 2 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2004/757/JI den Mitgliedsstaaten die Konkretisierung überlasse, wann ein Handeln nach nationalem Recht „ohne entsprechende Berechtigung“ erfolgt und damit verboten ist. „Ohne entsprechende Berechtigung“ bezieht sich Ihnen zufolge ausschließlich auf die auch nach Völkerrecht zulässigen Ausnahmen zu medizinischen und wissenschaftlichen Zwecken. Denn wenn die Staaten selbst entscheiden könnten, welche Handlungen sie sanktionierten, würden die Ziele des Rahmenbeschlusses verfehlt. Dieser Einwand geht aber selbst eindeutig fehl. Weder im Wortlaut des Art. 2 noch in der Präambel des Rahmenbeschlusses 2004/757/JI lassen sich Anhaltspunkte dafür finden, dass sich die Formulierung „ohne entsprechende Berechtigung“ ausschließlich auf wissenschaftliche und medizinische Zwecke bezieht. Der Rahmenbeschluss 2004/757/JI bestimmt nicht, zu welchen Zwecken eine Berechtigung erteilt werden darf. Dass eine Berechtigung nur zu wissenschaftlichen oder medizinischen Zwecken erteilt werden darf, ergibt im Hinblick auf das Ziel des Rahmenbeschlusses, den illegalen Drogenhandel zu bekämpfen und hierfür Minimalvorgaben festzulegen, auch keinen Sinn. Denn in der Präambel heißt es ausdrücklich, dass sich die von der EU getroffenen Maßnahmen aufgrund des Subsidiaritätsprinzips „auf die schwersten Arten von Drogendelikten konzentrieren“. Der EuGH hat sich zur Interpretation der Vorschrift bisher ebenso wenig geäußert wie zur Vereinbarkeit der Drogenpolitik einzelner Mitgliedsstaaten mit dem EU-Recht. Verschiedene Rechtswissenschaftler*innen vertreten die Ansicht, dass Art. 2 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses den Mitgliedsstaaten einen Handlungsspielraum überlässt. Die seit Jahren zu den Möglichkeiten einer Legalisierung von Cannabis zum Freizeitkonsum forschenden van Kempen/Fedorova kommen beispielsweise in ihrem im April 2023 veröffentlichten Gutachten zu dem Ergebnis, dass die Mitgliedsstaaten den Anbau und Handel von Cannabis zu Genusszwecken in einem streng kontrollierten nationalen Lizensierungssystem erlauben können, solange drogenbezogene Aktivitäten außerhalb dieses Systems effektiv verfolgt werden und damit den Zielen des Rahmenbeschlusses Rechnung getragen wird. Eine Genehmigung im Rahmen eines entsprechenden Lizensierungssystems sei eine „Berechtigung“ für Hersteller*innen, Händler*innen und Vertreiber*innen, sodass diese nicht „ohne entsprechende Berechtigung“ im Sinne des Art. 2 Abs. 1 handeln (Van Kempen/Fedorova, Cannabis Regulation through the „without right“ clause in article 2(1) of EU Framwork Decision 2004/757/JHA on Illicit Drug Trafficking, p. 1, 22 f.).

Auch der Vorwurf, wir argumentierten „klar contra legem“, indem wir für die Modellvorhaben auf die Verbotsausnahme des Art. 2 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2004/757/JI zum persönlichen Konsum verweisen, ist so nicht haltbar. Die Rechtslage ist auch hier nicht so eindeutig wie Sie behaupten. Art. 2 Abs. 2 und auch die Präambel des Rahmenbeschlusses konkretisieren nicht, was „persönlicher Konsum“ ist. Mehrere Rechtswissenschaftler*innen argumentieren, dass die Privilegierung nicht auf den Besitz zum Eigenkonsum beschränkt sein kann, sondern die diesem notwendigerweise vorausgehende Handlungen (zum Beispiel Anbau, Produktion und Kauf) ebenfalls erfasst sein müssen. Auch die Abgabe zum Eigenkonsum muss denklogisch von der Privilegierung umfasst sein, denn sie geht dem Besitz und Konsum zwingend voraus (Ambos, Zur völkerrechtlichen Zulässigkeit der Cannabis-Entkriminalisierung, verfassungsblog.de vom 20.5.2022, abrufbar unter: https://verfassungsblog.de/zur-volkerrechtlichen-zulassigkeit-der-cannabis-entkriminalisierung/#commentform; van Kempen/Fedorova, International Law and Cannabis Vol. I, 2019, S. 120). Gleiches gilt für die in den VN-Übereinkommen enthaltenen Verfassungsvorbehalte. Die völkerrechtlichen Bestimmungen fordern – anders als Sie meinen – nicht eindeutig, dass die Angebotsseite bei einer Entkriminalisierung des „persönlichen Gebrauchs“ von Genusscannabis weiter kriminalisiert werden muss (vgl. wiederum Ambos, van Kempen/Fedorova sowie Boister, Waltzing on the Vienna Consensus on Drug Control, S. 393). Letztlich ist die Frage, wie weit der Verfassungsvorbehalt reicht, für die Beurteilung der Vereinbarkeit von Modellvorhaben mit Europa- und Völkerrecht aber ohnehin nicht relevant, weil bereits die Ausnahme für medizinische und wissenschaftliche Zwecke greift.

Unzutreffend ist auch Ihre Behauptung, das niederländische Modellprojekt sei noch gar nicht umgesetzt und lediglich für zwei Kommunen geplant. Schon im Jahr 2019 wurden zehn Kommunen für das Modellvorhaben ausgewählt, außerdem sieben von zehn Produktionsbetrieben (vgl. Angaben der niederländischen Regierung, https://www.government.nl/topics/drugs/controlled-cannabis-supply-chain-experiment/background-and-design-of-the-controlled-cannabis-supply-chain-experiment). Das Vorhaben befindet sich aktuell in der ersten Phase (Vorbereitungsphase) und ist damit bereits angelaufen; die eigentliche Testphase startet Ende 2023. Die Tatsache, dass die Kommission sich bisher zum Vorhaben und etwaigen rechtlichen Bedenken nicht geäußert hat, kann zwar nicht als finale Billigung verstanden werden. Die Nichtäußerung weist aber zumindest darauf hin, dass die Kommission bisher keinen Anlass zum Einschreiten sieht.

Auf Ihre abschließenden Behauptungen, wonach die Cannabislegalisierung nicht zu einem besseren Gesundheitsschutz beitrage und den Drogenhandel nicht wirksam(er) bekämpfe, gleichzeitig aber dem Gesundheits- und Jugendschutz „diametral zuwiderlaufe“, möchten wir an dieser Stelle angesichts der bereits ausgiebig diskutierten Studienlage nicht weiter eingehen. Nur so viel: Die bisherige, strikte Drogenverbotspolitik ist offensichtlich gescheitert. Es ist daher an der Zeit, im Umgang mit Cannabis zum Freizeitkonsum neue Wege zu gehen, um den Schwarzmarkt effektiv zu bekämpfen und einen besseren Gesundheitsschutz durch sicheren Konsum zu gewährleisten. Der vorgelegte Referentenentwurf des Bundesgesundheitsministeriums verfolgt diese Ziele und berücksichtigt dabei in besonderem Maße auch die Belange des Kinder- und Jugendschutzes.

Im Ergebnis möchten wir Sie erneut darauf hinweisen, dass Ihre Aussage, dass die Pläne der Bundesregierung und des Bundestages im Bereich Cannabislegalisierung klar rechtswidrig seien und eine Durchführung wissenschaftlich begleiteter Modellvorhaben mit dem Europarecht unvereinbar wäre, so nicht zutrifft. Das Recht kennt keinen Populismus. Rechtliche Argumente bewusst zu missverstehen und nicht einschlägige Entscheidungen so zu zitieren, dass sie die eigenen Argumente scheinbar belegen, entspricht nicht unserem Verständnis von juristischem Arbeiten. Wir bieten Ihnen daher erneut einen Termin an, um Sie über die Rechtslage ausführlich zu informieren.

Hochachtungsvoll

Carmen Wegge
Mitglied des Deutschen Bundestages
stv. rechtspolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion

Lena Odell
Stadträtin
Landeshauptstadt München

Anja König
Vorsitzende
SPD-Stadtratsfraktion Landshut

Claudia Arabackyj
Stv. Vorsitzende
SPD-Stadtratsfraktion Nürnberg

Peter Stranninger
Stv. Vorsitzender
SPD-Stadtratsfraktion Straubing

Alexander Irmisch
Stadtrat Stadt Regensburg

Anna Rasehorn
Stadträtin Stadt Augsburg

Daniel Liebetruth
Vorsitzender
SPD-Stadtratsfraktion Germering

Munib Agha
Stadtrat
Stadt Erlangen

Magdalena Reiß
Stadträtin
Stadt Schwabach